Wie ein seltener Gen-Defekt meine Sicht auf das Leben veränderte
Lesezeit: 6 Minuten | Hörspiel: 8 Minuten
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Im Sommer 2020, während die Welt im Chaos der COVID-19-Pandemie versank, erlebte ich meine ganz persönliche Krise: den überwältigenden Schmerz, mit GNE-Myopathie diagnostiziert zu werden.
GNE-Myopathie ist ein Gendefekt, der fortschreitende Schwäche in den Muskeln verursacht, vor allem in den Beinen und Armen.
Während die Welt um mich herum stillzustehen schien, fühlte es sich an, als würde mein eigenes Leben in eine ungewisse Zukunft rasen – geprägt von der Realität dieser Symptome.
Dankbarkeit statt Selbstmitleid
Heute, viereinhalb Jahre später, wenn mir jemand eine Zauberpille anbieten würde, um meine Bewegungsfähigkeit zurückzubringen – natürlich würde ich sie nehmen. Denn ja, der Verlust meiner Beweglichkeit ist schmerzhaft. Die Trauer über das, was ich nicht mehr tun kann, bleibt. Und das ist okay – sie darf bleiben.
Aber: Würde mir jemand die Möglichkeit geben, die Zeit zurückzudrehen, die Diagnose auszulöschen und von dort an "gesund" weiterzumachen, würde ich nein sagen.
Warum? Davon erzähle ich euch jetzt..
Loslassen von dem „guten Leben“, das ich einst wollte
Mein Leben wurde durch den vorranschreitenden Bewegungsverlust auf eine Weise bereichert, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.
Bevor ich diese Diagnose erhielt, strebte ich ein „gutes Leben“ an – definiert durch meinen Verstand. Also folgte ich ihm blind und tat alles, um dieses Ziel zu erreichen.
Ich war überzeugt, dass ich eines Tages, wenn ich mir nur genug Mühe geben würde, glücklich sein könnte. Ironischerweise war es genau diese Anstrengung, dieses Mühe geben, was mich krank machte und mich daran hinderte, die Schönheit des Lebens zu erkennen.
Der Kampf um Heilung: Es war nicht der Körper, der Heilung brauchte, sondern das Streben des Verstandes
Als die Symptome sich im Laufe der Zeit verstärkten und ich mich nicht mehr so bewegen konnte wie früher, wurde mein Bild eines „guten Lebens“ unerreichbar. Alle Meilensteine, die ich mir gesetzt hatte, fielen in sich zusammen, und ich stand plötzlich im Nirgendwo.
Der Verlust meiner Beweglichkeit war unbeschreiblich schmerzhaft. Zuerst wehrte ich mich – und versuchte noch härter, das „gute Leben“ zu erzwingen. Ich durchlief schulmedizinische Behandlungen, suchte ganzheitliche Heilung, probierte Detox-Kuren, Diäten und Workouts – alles, was ich finden konnte.
Und mal ehrlich: Das Angebot in der Heilungsbranche ist überwältigend – und jeder scheint unserem Verstand etwas verkaufen zu wollen.
„Du musst nur anders essen: am besten vegan! Oder doch lieber nur Fleisch? Auf keinen Fall Kohlenhydrate, Zucker sowieso nicht – Obst zählt auch dazu!“
„Beweg dich mehr, aber nicht zu viel. Mach mehr Yoga, meditiere! Mehr schlafen, weniger schlafen, mehr Sonne, weniger Sonne. Reduziere die Bildschirmzeit, installier rotes Licht am Abend, leg dir eine Kühlmatte ins Bett.“
Diese Flut an Informationen prasselte auf mich ein – aus Büchern, Social Media, Podcasts und Co. Und ich glaube, die meisten meinen es gut. Aber inzwischen vermute ich, dass auch viele dieser Menschen, die dir diese Optimierungen verkaufen, auch nur in ihrem Verstand gefangen sind und auch nur einem „guten Leben“ hinterherrennen – sei es für sich selbst oder für die ganze Welt.
Dieser Drang, ständig etwas besser machen zu müssen, ist längst nicht nur auf die Heilungsbranche beschränkt. Man findet ihn überall: im Streben nach einer besseren Welt, in der Bildung, der Politik, beim Klimaschutz, in der Natur- und Tierrettung. Ein Fanatismus, der nie zur Ruhe kommt.
Ich gab mir am Ende selbst die Schuld, dass ich mich trotz all dieser Bemühungen nicht „heilen“ konnte. Schließlich musste ich loslassen – von der Idee des „guten Lebens“.
Stille: Was passiert, wenn man gezwungen wird, stehenzubleiben
Heute muss ich jeden Schritt bewusst setzen. Wie eine alte Frau. Wenn ich ein Restaurant betrete, achte ich auf die Schwelle und halte mich an der Tür fest. Wenn ich die Straße überquere, überprüfe ich den Boden, damit ich nicht über unebenen Beton stolpere. Meine Augen und meine Achtsamkeit sind ständig auf den Boden gerichtet, um einen Sturz zu vermeiden.
Das machte mich am Anfang wahnsinnig. Ich hasste es.
Bis ich eines Tages mit meinen Hunden in den Bergen von Oaxaca spazieren ging. Ich trug meine Orthesen und nutzte meinen Gehstock. Wieder musste ich jeden Schritt genau beobachten, um nicht zu stolpern.
Die Sonne ging unter, aber ich hatte den Gipfel noch nicht erreicht. Frustration stieg in mir auf – ich wurde wütend –, dass meine „Krüppel-Füße“ mich daran hinderten, den Sonnenuntergang zu sehen. Ich wollte ihn im Gehen genießen, also beim laufen sehen, was es zu sehen gibt. Doch meine „Krüppel-Füße“ zwangen mich, auf den Boden zu starren.
Ich war mit der Situation komplett überfordert und blieb letzendlich stehen. Ich blickte über das kleine Dorf und die grasenden Stiere und Ziegen. Die Sonne ging in wunderschönen Rosa- und Orangetönen unter, mit kleinen violetten Wolken, die dazwischen tanzten. In der Trockenzeit, sind die Sonnenuntergänge besonders schön.
Ich atmete schwer und sah einfach nur hin.
Und dann traf es mich – es erfüllte mein Herz. In dieser Stille konnte ich es auf einmal erfassen.
Das Geschenk der Präsenz: Vom Körper erzwungen, vom Geist widerstanden
Wenn mein Verstand sich bewegt, bewegte sich auch mein Körper. Immer denkend, immer vorwärts strebend. Immer einen neuen Gipfel erreichen, den mein Verstand auserwählt hatte. Ein endloser Wettlauf zum Ziel, das nur in der Zukunft existiert.
Mein Körper zwang mich, still und präsent zu sein, und dort fand ich es:
Ich war plötzlich erfüllt von: Freude. Liebe. Schönheit.
Großartig auf eine Weise, die ich mir nie hätte vorstellen können.
Ich habe ein Geschenk erhalten, das weit über das „gute Leben“ hinausgeht. Wenn ich im gegenwärtigen Moment immer nach mehr strebe, werde ich mein Leben damit verbringen, das "gute Leben" zu jagen. Und das wird meine Lebenserfahrung sein – bis ich sterbe. Aber wenn ich innehalte – aufhöre, nach mehr zu streben –, werde ich beschenkt mit einer tiefen Dankbarkeit für das, was ist.
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Heute ist der Sonnenuntergang – die Freude, die Schönheit und die Dankbarkeit – nicht nur auf diesem kleinen Hügel in den Bergen von San Pablo Etla zu sehen. Er ist da, wenn ich achtsam meine Schritte setze, um ein Restaurant zu betreten. Er ist da, wenn ich mich an der Tür festhalte. Er ist präsent, wenn ich darauf achte, sicher zu sein.
Der Sonnenuntergang liegt in jedem Schritt, den ich gehe.
Ich werde nie vergessen, was ich an jenem Tag in den Bergen von San Pablo Etla empfing. Selbst wenn ich mein AUgenlicht verlieren würde – das, was ich in diesem Moment gesehen habe, kann weder mit den Augen gesehen noch mit dem Verstand begriffen werden; denn …
Man sieht nur mit dem Herzen gut.