Über Frieden, Verlust – und das stille Ankommen im Jetzt
Begegnung über den Wolken: Zwei Welten, eine Sehnsucht
Heute, auf meinem Flug von Mexico City nach Los Cabos, saß ich neben einer berühmten norwegischen Bergsteigerin - Kristin Harlia.
Zu Beginn unseres Gesprächs dachte ich, unsere Leben könnten nicht unterschiedlicher sein. Sie besteigt Berge – große Berge. Ihr nächstes Ziel: Nepal.
Kristin zeigte auf meine Patagonia-Gürteltasche und zog dann ihre eigene aus dem Rucksack – nur in einer anderen Farbe. „Schau mal, ich hab auch so eine“, sagte sie lächelnd. Ich musste innerlich schmunzeln. Wahrscheinlich nutzt sie ihre Gürteltasche bei ihren Sporteinheiten, ich hingegen als praktisches Lifestyle-Accessoire.
Sie erzählte mir, dass sie auf ihrer letzten Tour ihren besten Freund verloren hat. In diesem Moment verließen wir den Smalltalk.
Ich erzählte ihr von meiner Diagnose vor fünf Jahren – GNE-Myopathie – und davon, dass ich nicht mehr richtig gehen kann. Von Bergsteigen ganz zu schweigen.
Wir lächelten uns mitfühlend an. Und weil wir nicht mehr viel Zeit hatten und ich eben so bin, fragte ich sie:
„What’s your dream?“
„Ich möchte Frieden finden“, sagte sie. „Mit dem Bergsteigen aufhören und vielleicht auf meiner eigenen Farm, mein eigenes Gemüse anbauen. Tiere halten.“
Auf der Bergspitze
Sie hätte den Frieden in den Bergen gesucht – und ihn dort auch immer wieder gefunden:
Auf der Bergspitze, erzählte sie,
verliert sich die Wahrnehmung von Zeit und Raum.
Für einen Moment tauchst du ein in die Essenz des Lebens.
Ein Momentum des Friedens.
Eine Stille, die nicht nur über die Ohren wahrnehmbar ist.
Eine Klarheit, die nicht nur über die Augen sichtbar wird.
Eine Luft, so rein, dass sie nicht nur deine Lungen füllt –
dein ganzes Sein tritt ein in den Raum Gottes.
Ein majestätisches Gefühl von Dankbarkeit, Liebe, Größe.
Ehrfurcht vor der Gewalt der Lebendigkeit.
Sinn.
Klein wird der Körper, klein der Lebensauftrag,
den dein Verstand zuvor für dich entworfen hat.
Groß wird die Wahrnehmung mit dem Herzen –
das begreift, dass alles unendlich kostbar ist.
Unsere Identitäten lösen sich auf – ins Nichts.
Und gleichzeitig erleben wir, wie wir alles bereits sind.
Es gab nie etwas zu tun. Nie etwas zu werden.
Alles ist – hier und jetzt – vollkommen.
Frieden.
Doch der bleibt dort oben auf dem Berg.
Dort darf man von ihm kosten, ihn erleben –
aber man kann ihn nicht mit hinunternehmen.
Die Berge, die wir alle besteigen
Und so wurde mir klar: Wir alle besteigen diese Berge, um Frieden zu finden. Wir alle wollen endlich loslassen vom ewigen Werden. Wir sehnen uns nach Vollkommenheit und Fülle.
Vielleicht suchen die wenigsten von uns den Frieden auf dem Kilimandscharo. Aber wir alle suchen ihn – um endlich loslassen zu können vom inneren Mangel-Erleben unserer selbst.
Die Beförderung, die richtige Partnerschaft, das Eigenheim, das zweite Kind, der tolle Körper, Länder bereisen… Wir haben alle diese kleinen und großen Ziele im Kopf.
Wir kreieren Bilder – und unternehmen alles Mögliche, um sie zu erreichen. Um dann, im Moment des Erreichens, dieses Gefühl von Frieden zu erleben.
Und wenn wir es erreichen – und es sich kurz so anfühlt, als hätten wir es gefunden – machen wir weiter. Und suchen den nächsten Berg, wo wir den vermeintlichen Frieden auf der Bergspitze finden.
Vielleicht ist Frieden näher als wir denken
Doch was, wenn der ewige Frieden ganz nah ist? Näher, als wir denken? Was, wenn wir nichts tun müssen, um ihn wirklich zu erfassen? Was, wenn wir loslassen dürfen – aussteigen aus dem ewigen Prozess des Werdens? Was, wenn der Frieden nicht erreicht werden kann – sondern nur erfahren wird in dem Moment, in dem wir nichts mehr wollen? Was, wenn es das Wollen selbst ist, das den Unfrieden erschafft?
Dieses Wollen loszulassen – das tut weh. Für mich steht es sinnbildlich für Kristins Freund, den sie auf dem Berg zurücklassen musste. Und für einen Teil meiner Mobilität, den ich in der Vergangenheit lassen musste.
Vielleicht ist Frieden kein Ziel, sondern der stille Raum, der entsteht, wenn wir aufhören zu suchen. Wenn wir bereit sind, etwas zurückzulassen – nicht, weil wir gescheitert sind, sondern weil wir verstanden haben, dass wir längst angekommen sind.
Auf den ersten Blick sind Kristin und Ich sehr verschiedene Menschen und auf den zweiten, könnten wir gleicher nicht sein.
Danke Kristin für diese besondere Begegnung.
Über Kristin Harila:
Kristin Jonassen Harila (*28. März 1986 in Vadsø) ist eine norwegisch-samische Extrembergsteigerin und ehemalige Skilangläuferin. Sie hat alle 14 Achttausender der Welt bestiegen und hielt von Mai 2023 bis Oktober 2024 den Rekord für die schnellste erstmalige Besteigung aller Achttausender – in nur einem Jahr, elf Monaten und zehn Tagen. Im Jahr 2023 setzte sie gemeinsam mit Sherpa Tenjen Lama einen weiteren Meilenstein: Alle 14 Gipfel innerhalb von nur 92 Tagen.