Der Haarschnitt – Eine Geschichte über Selbstwert, Sicherheit und den Mut, sich zu trauen

Ein Lagerfeuer in der Dämmerung, umgeben von Bergen und dunklem Himmel. Die Flammen leuchten warm und lebendig – still, kraftvoll und einladend.

Meine Geschichte beginnt mit Feuer,

gegrilltem Picanha, hausgemachten Naranjadas – und einer Vertrautheit, die sich nur zeigt, wenn du von Menschen umgeben bist, die sich nach Zuhause anfühlen. Selbst wenn du sie gerade erst kennengelernt hast.

Es war einer dieser Abende, die nichts fordern und doch alles schenken: Wärme, Präsenz und Raum, um die eigene Schutzmauer fallen zu lassen.

Dass diese Geschichte mit demselben Feuer enden würde – auf eine überraschend befreiende Weise – hätte ich nicht erwartet.
Ein paar Stunden später stand ich da, warf mein frisch geschnittenes Haar in die glühenden Kohlen, über welchen kurz zuvor noch das Picanha brutzelte.

Aber ich erzähle heute nicht einfach nur von einem neuen Haarschnitt.
Diese Geschichte handelt von einer tiefen Sehnsucht in mir – dem Wunsch, glauben zu dürfen, dass ich schön bin.
Und letztlich davon, wie ein einziger Haarschnitt die Angst berührte, genau das zuzulassen. Was wie ein gewöhnlicher Abend begann, wurde der Anfang einer stillen, unerwarteten Begegnung mit mir selbst.

Lesezeit: 13 Minuten

I. Das Setting

Es war unsere letzte gemeinsame Nacht in Todos Santos, Mexiko. Meine beste Freundin Birgit, ihr neuer Partner Vito und ich – versammelt um ein Lagerfeuer im Garten.

An diesem Abend zeigte mir Vito, 31, Argentinier — wie man Picanha auf traditionelle Weise grillt. Barfuß und ganz in seine Mission vertieft, bewegte er sich konzentriert und zugleich mit wahnsinnig guter Laune um die Feuerstelle.

Während Birgit oben in der Küche Naranjadas zubereitete, blieb ich unten am Feuer – stellte Vito unzählige Fragen und sog jedes Detail auf, das er über das Grillen mit offenem Feuer zu erzählen wusste.

Ich lebe mit GNE-Myopathie – einer seltenen genetischen Mutation, die zu fortschreitendem Muskelschwund führt. Seit dem Ausbruch der Erkrankung im Jahr 2020 muss ich mit meiner Energie anders haushalten.

Ich sitze heute deutlich mehr als früher, plane meine Bewegungen bewusst. Ich überlege mir inzwischen ganz genau, wofür ich meine Muskelkraft am Tag einsetze:

“Lasse ich mich beim Einkaufen von meinem Partner im Rollstuhl schieben, um Kraft zu sparen – damit ich später noch mit den Hunden spazieren gehen kann?”

“Putze ich heute die Dusche oder wasche ich mir die Haare?”

Früher war ich gerne diejenige, die in der Küche stand – kochte, aufräumte, ständig in Bewegung war, bemüht, mich um alle zu kümmern.
Würde ich das heute noch so machen, läge ich am nächsten Tag mit Muskelschmerzen völlig erschöpft mit moppiger Laune im Bett.

GNE lädt mich also ein, langsamer zu werden und meine Energie gezielt einzusetzen. Ein Teil von mir fühlte sich trotzdem unwohl dabei, einfach nur dazusitzen, während alle anderen beschäftigt waren.

Doch ich lerne, die Fürsorge meiner Freund:innen anzunehmen – ohne dem Selbstmitleid zu verfallen. Also ließ ich das Schuldgefühl ziehen, stellte Vito noch mehr Fragen – und war einfach dankbar. Dankbar, für den Augenblick mit meinen Freunden und für diesen stillen Moment am Feuer.

Vito warf ein paar Hähnchenteile auf den Grill, während Kartoffeln und Gemüse in Alufolie in der Glut langsam schmorten. Er hielt die Hand über den Rost, zählte: „Uno, dos, tres, cuatro, cinco – perfecto.“, sagte er, und legte ein großes Stück Picanha auf den Grill.

Als die Sonne unterging und Birgit sich mit ihrer Naranjada neben mich setzte, und Vito noch ums Feuer schwirrte, war mein Körper warm und entspannt. Ich fühlte mich ruhig. Richtig zufrieden. Für mich hätte die Geschichte genau hier enden können.

Aber dieser Abend hatte andere Pläne.
Gerade als der Abend in seine ruhige Tiefe glitt und die ersten Sterne am Himmel auftauchten, kamen zwei Freundinnen von Vito dazu:

Riawna und Morgan – ein Paar aus L.A.

Ehrlich gesagt war ich ein bisschen nervös.
Ich lebte zurückgezogen, weit weg vom Trubel, und konnte mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal neuen Menschen begegnet war.
Ich hatte das Gefühl, meinen Funken verloren zu haben – und war unsicher, ob ich überhaupt etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.

Doch wie so oft war meine Sorge unbegründet.
Wir aßen, lachten, redeten – und der Abend wurde sanft und vertraut.

Barriga llena, corazón contento, wie man in Mexiko sagt: voller Bauch, glückliches Herz.

II. Das Kompliment

Als ich vom Bad zurückkam, meinen strammen Dutt löste und mit den Fingern massierend über meinen Haaransatz fuhr, sah mich Riawna mit großen Augen an:

„Wow, deine Haare sind wunderschön!“

Ich schrack zusammen, senkte den Blick und sagte:

„Ja, sie sind ziemlich lang – aber super trocken und kraus“.

Damit versuchte ich meine Nervosität zu beruhigen und mich in die gewohnte Rolle “der Unscheinbaren” zu retten.

Doch sie ließ sich nicht davon abbringen. Stattdessen begann sie eine Art liebevolles Mantra an Komplimenten und sagte mir immer wieder, wie schön mein Haar sei.

Habe ich schon erwähnt, dass das Riawna Capri war?
Star-Stylistin und Mitgründerin des Salons
Nine Zero One in Los Angeles.

Als ich diese Komplimente von ihr hörte, hätte ich am liebsten in Luft aufgelöst. Ich habe sowieso schon Schwierigkeiten, Komplimente anzunehmen – und jetzt sagte mir auch noch eine Star-Stylistin, dass mein Haar wunderschön sei?

Mein Körper wollte weglaufen, verschwinden. Und doch stand dazwischen mein sechsjähriges Ich – still, sehnsüchtig, wartend auf genau solche Komplimente.

Riawna war wie ein sanfter Sommerregen, der nicht aufhörte – weich, warm, und voller Staunen über mein Haar.

Mein Verstand wehrte ab: „Amerikaner übertreiben halt“, sagte ich mir.

„Das ist kulturell bedingt. Sie meint das nicht so. Lass dieses schöne kribbelige Gefühl im Bauch gar nicht erst ankommen, Lisa. Bleib auf dem Boden.“

Und genau in dem Moment, als ich dachte, ich könne keinen weiteren Tropfen Lob vertragen, stimmte auch ihre Partnerin Morgan mit ein – zweistimmig im Chor, bewunderetn sie nun mein Haar.

An dieser Stelle wollte am liebsten langsam vom Stuhl herunterrutschen und unter dem Tisch versinken…

Ich fühlte mich überfordert – sprachlos, innerlich flatternd, als hätte jemand einen Scheinwerfer auf mich gerichtet, dem ich nicht entkommen konnte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Angst, überheblich zu wirken oder mich für etwas Besonderes zu halten, lebt in mir, seit ich denken kann.

Wenn mir jemand ein Kompliment macht, lenke ich ab. Ich spiele es runter, schiebe es auf Glück, Gene, Zufall – alles, nur nehme ich es nicht an.

„Du hast so schöne Haare.“ – „Ach, die sind super trocken und kraus.“
„Dein Spanisch ist richtig gut.“ – „Na ja, es müsste viel besser sein nach all den Jahren.“
„Dein Hund hört so gut.“ – „Ich hatte einfach Glück mit ihr.“

Nie sage ich einfach nur: „Danke. Schön, dass dir das auffällt.“

Aber die beiden hörten nicht auf. Ihr Lob war so ehrlich, dass es sich irgendwann undankbar angefühlt hätte, es weiter abzuwehren. Also lächelte ich – und sagte schließlich: „Danke.“

Und in dem Moment, als dieses Wort über meine Lippen kam – und ich mir erlaubte zu glauben, dass vielleicht wirklich etwas an mir schön ist – begann ich zu zittern. Wirklich zu zittern.

Weil tief in mir die kleine Lisa schon so lange darauf wartet, endlich schön sein zu dürfen.

Meine Kehle schnürte sich zu. Die Zeit zog sich endlos. Ich fühlte mich durchsichtig. Roh. Unendlich verletzlich.

Riawna öffnete einen Raum aus Sanftheit und Sicherheit zwischen uns, und ich begann, ihr zu vertrauen, als sie mir Fragen zu meinem Verhältnis zu meinen Haaren stellte.

„Trägst du deine Haare manchmal offen?“,

„Magst du, wie sie aussehen?“, fragte sie.

„Ich liebe mein Haar“, sagte ich.

„Aber nicht, wie es aussieht. Meistens trage ich es im Dutt oder geflochten. Gleichzeitig kann ich mich einfach nicht dazu durchringen, sie zu schneiden.“

“Warum?”, fragte sie..

Ich zögerte – und teilte dann etwas, das ich nur selten ausspreche, weil es kaum jemand ernst nimmt:

„Ich habe wiederkehrende Albträume — in denen ich mitten in der Nacht aufwache – mit einem schweren Magen und Panik in der Brust – weil jemand mir den langen Zopf im Traum einfach abgeschnitten hat.“

Mein Verstand weiß, es ist nur ein Traum und es ist nur Haar.
Es sollte nicht so eine große Sache sein.

Aber Riawna nahm mich ernst und sagte etwas, das mich berührte:

„Haar steht in vielen Kulturen und inneren Bildern für Stärke, Schönheit und Selbstbestimmung. Wenn es ohne Zustimmung abgeschnitten wird – selbst in einem Traum, der sich anfühlt wie ein Schlag in die Magengrube – kann das eine tiefe Verletzung symbolisieren. Ein symbolisches Echo. Vielleicht keine bewusste Erinnerung, aber eine emotionale Spur aus einer Zeit, in der deine Grenzen überschritten wurden.“

Und sie hatte recht.
Es ging nicht nur um mein Haar.

Es ging um meinen Wert. Um Grenzen, die überschritten worden waren – subtil, wiederholt, vielleicht sogar gewaltsam. Bruchstückhaft tauchten Kindheitserfahrungen in mir auf, die ich in diesem Moment jedoch nicht teilte.

Also ja – für mich ist das eine große Sache.

Riawna nickte – mitfühlend und aufmerksam zugleich. Ich stand mit all meinen Sorgen und Ängsten in ihrem Mittelpunkt, und nichts davon schien ihr zu viel zu sein. Im Gegenteil – sie wirkte offen, zugewandt, ehrlich interessiert.

Sie erklärte, wie Haare Energie speichern – und wie das Abschneiden auch ein Akt des Loslassens sein kann.

Dann lächelte sie und sagte:
„Dein Haar ist wie eine leere Leinwand. Ich würde so gern etwas daraus machen. Es wäre mir eine Ehre.“

Und irgendwie begann ich, ihr zu vertrauen.

III. Die Einladung

Dann sah sie mich an – mit ihren großen, klaren Rehaugen, voller Respekt und Bewunderung – und fragte:

„Darf ich deine Haare schneiden?“

Das mag dramatisch klingen – und ehrlich gesagt, war es das auch.
Es fühlte sich an wie ein Antrag. Nicht die lockere Version, sondern die auf-ein-Knie-gehen-mit-Musik-und-alle-halten-den-Atem-an-Version.
Das Einzige, was fehlte, war Clair de Lune auf der Violine. Und vielleicht eine Konfetti-Kanone.

Die anderen saßen um uns herum wie Hochzeitsgäste bei einer stillen Zeremonie – glasige Augen, gefaltete Hände, tiefes Mitfiebern. Niemand sagte ein Wort – es brauchte auch keines. Ihre Präsenz fühlte sich an wie emotionaler Dolby Surround.

Und als ich schließlich nickte und Ja sagte, applaudierten sie.

Nicht für den Schnitt.
Sondern für den mutigen Sprung in die Veränderung.

IV. Der Schnitt

Es war dunkel.
Die Terrasse, auf der wir gegessen hatten, war nur von ein paar billigen mexikanischen Weihnachtslichterketten und verstreuten Kerzen beleuchtet. Also improvisierten wir: Vito band eine Stehlampe an einen Deckenbalken, das Kabel baumelte herunter. Morgan reichte Riawna eine Stirnlampe. Birgit machte Tee für alle.

Plötzlich waren sie wie emsige Ameisen damit beschäftigt, diese improvisierte Zeremonie für mich vorzubereiten. Und irgendwie wirkte das Ganze… heilig. Auf eine wunderbar absurde Art.

Die ganze Situation war alles andere als geplant – eigentlich vollkommen surreal. Ich meine: Ich lebe seit fünf Jahren zurückgezogen in den Bergen Oaxacas, wasche meine Haare mit Seife und Apfelessig – und jetzt sitze ich hier, barfuß auf einer Terrasse in Mexiko, gegenüber von einer der berühmtesten Hairstylistinnen der Welt. Und sie fragt mich, ob sie mir die Haare schneiden darf?

Äh, also wirklich – wie ist das passiert?

Andere würden dafür wahrscheinlich Monate im Voraus einen Termin buchen, ihre Pinterest-Pinnwand als Inspiration mitbringen und genau wissen, ob’s ein Long Bob oder Curtain Bangs werden soll.

Ich hatte: kalte Füße, Stirnlampe – und Muskelzittern.

Es war fast schon komisch. So viele Frauen hätten wahrscheinlich gern mit mir getauscht – und ich? Ich wollte am liebsten im Boden versinken und mein Haar retten wie ein Stück unberührten Regenwald.

Doch tief in mir spürte ich: Vielleicht war genau das der Moment, auf den ich unbewusst gewartet hatte.

Oder besser: der Moment, in dem ich endlich loslassen durfte.

Und da saß ich – auf einem Gartenstuhl, zitternd, den Tränen nah.

Riawna hatte all ihre Werkzeuge dabei – die Schere in ihrer Hand wirkte wie ihr sechster Finger.
Sie legte mir einen Umhang um, wir stellten einen kleinen Spiegel auf den Tisch, und dann reichte sie mir sanft die Schere.

„Du machst den ersten Schnitt“, sagte sie ruhig und bestimmt.

Der erste Schnitt dauerte fünf endlos lange Minuten.
Ich zitterte, fröstelte, meine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich wollte es – und gleichzeitig überhaupt nicht.

Ich wusste überhaupt nicht, was ich wollte.
Und noch weniger, wie ich herausfinden sollte, was jetzt richtig für mich ist.

Und plötzlich wurde mir klar: Diesen Zustand kenne ich nur zu gut.
Nicht nur jetzt. Es zieht sich wie ein Grundton durch mein Leben.
Dies oder das? Gehen oder bleiben? Was, wenn ich mich falsch entscheide? Kann ich das aushalten?

Dieser erstarrte Zustand – er war mir nur allzu vertraut.
Ein Terrain aus Angst und Unsicherheit, durchzogen von der Sehnsucht nach Kontrolle und Sicherheit.

Ich versuchte zu lachen, machte Witze über meine Albträume – “jemand, der mir den Zopf abschneidet, ha ha” – aber innerlich war ich zerissen.

Die Angst raste wie ein Lauffeuer durch meinen Körper.

Also griff mein Verstand zu seiner Lieblingsstrategie:

”Spiel auf Sicherheit. Lass alles, wie es ist. Unbequem – aber vertraut.”

Ich wollte sicher sein, dass ich diesen Haarschnitt lieben würde.
Oder ihn zumindest ertragen könnte.
Aber ich konnte nicht sicher sein.
Es gab keine Sicherheit – nicht beim Haarschnitt, und auch nicht im Leben selbst.

Ich sah mir im Spiegel selbst in die Augen.
Mit der Schere in der Hand, die sich anfühlte, als wöge sie hundert Kilo.
Und dann war da diese Stimme in mir, die leise begann zu sprechen:

„Ich liebe dich, Lisa. Ich liebe, wie du dich kümmerst. Ich liebe deine Präsenz, deine Ausdauer, deine Verlässlichkeit.
Du gibst so viel –
nicht nur dir selbst, sondern deinen Hunden, deinen Freund:innen, deiner Familie, deiner Arbeit.
Und nichts davon wird verschwinden.
Deine Haare zu schneiden ändert nicht, wie du liebst.
Du darfst dir selbst vertrauen.
Was auch passiert – ich bin da.

Es geht hier nicht um deine Frisur.
Es geht darum, deiner Intuition zu folgen.
Und selbst wenn du fällst – du stehst wieder auf.

Das ist die Lektion.
Die Frisur wird vergehen.
Aber der Sprung ins Unbekannte?
Der bleibt.

Ich bin bei dir.
Du bist sicher.“


Haarschnitt bei Kerzenlicht: Riawna Capri schneidet Lisa die Haare unter einer strohgedeckten Terrasse. Die Szene wirkt ruhig, konzentriert und intim – ein stiller Moment des Vertrauens und der Transformation.

Und da war es so weit: Chip chip – eine Seite war ab.
„Mhm, ja. Gut“, sagte Riawna mit ihrer sanften Stimme.
Chip chip – auch die andere Seite fiel. „Da hast du’s. Super gemacht.“

Dann begann sie zu schneiden.
Wir sprachen kaum noch – sie war ganz bei mir, ganz in meiner Energie.
Mit jedem Schnitt spürte ich: Sie schnitt mit Mitgefühl. Mit Herz.

Ich war ihr Mittelpunkt.
Sie fühlte meine Angst – und ließ sie einfach da sein.
Ohne Eile. Ohne Zurückweichen.

Sie hielt mich in ihrer Aufmerksamkeit – wie Peter Levine in Waking the Tiger, wenn die Klientin zitternd ihr Trauma entlädt.
Und genau darin lag dieser leise, fast versteckte Humor im Ernst der Situation: Mein Zittern, mein Bibbern, war nicht bloß Nervosität, sondern ein echtes, körperliches Entladen von Angst – so, wie man es aus der bewusst vorbereiteten Traumaarbeit kennt.
Nur dass hier nichts geplant war, keine therapeutische Sitzung, keine formelle Struktur.
Es war spontan, ungefragt und doch auf wundersame Weise wirksam – ganz ohne Titel, Diagnose oder Setting.

Und obwohl es aussah, als würde sie mit ihren Händen schneiden, tat sie es mit ihrem Herzen.

Während sie schnitt, machte sie dieses leise, zustimmende Geräusch:
„mhm, mhm, mhh, mhm, mhm“ –
ein vibrierendes Summen, das mich sanft im Stuhl verankerte.

Und ihre großen Augen sahen mich an –
voller Liebe, Respekt und Vertrauen.
Als wüsste sie: Ich komme sicher auf der anderen Seite an. Und sie begleitete mich dabei - bis zum Ende.

In ihrem Blick war kein Zweifel. Und genau das gab mir am Ende den Mut, völlig loszulassen.

V. Nach dem Schnitt

Ich muss euch nicht sagen, dass der Haarschnitt großartig aussah.
Aber darum geht es nicht.

Riawna hat mir nicht einfach nur eine neue Frisur geschenkt.
Sie hat einen Raum geöffnet – für etwas viel Tieferes.

Sie schneidet viele Haare und lässt Menschen strahlend nach Hause gehen.
Aber das, was sie in dieser Nacht für mich getan hat, das kann man weder planen noch bezahlen.

Es ging nicht um Haare oder um gutes Aussehen.
Wir trafen uns in Mexiko – an einem Lagerfeuer, beim Essen, beim Geschichtenerzählen. Und da war diese Frau, die irgendwie wusste, wie man mit meiner Angst ums schön sein spricht.

Nach dem Haarschnitt fühlte ich mich tatsächlich leichter.

Es war nicht die Art von Freude, die explodiert –
sondern die, die sich wie ein Mantel um dein Herz legt.
Ein stilles Gefühl von Annahme.

Und ja – um dem Drama die letzte Ehre zu erweisen, und weil ich eben so bin:
Ich verbrannte mein Haar im selben Feuer, das uns am Anfang zusammengeführt hatte.

Bewusst. Still. Und ein bisschen spirituell, sagte ich zu mir:

„Danke, dass du mutig warst. Von jetzt an darfst du dich schön finden – und dir vertrauen.“

Als die Haarsträhnen in der Glut verschwanden, spürte ich eine leise Welle von Dankbarkeit – mir selbst gegenüber.
Etwas, das ich viel zu lange getragen hatte, begann sich zu lösen.
Und etwas, wonach ich mich so sehr gesehnt hatte – angenommen zu sein – begann sich zu füllen.
Nicht von außen, sondern von innen.

Dann kam Birgit. Sie Legte still den Arm um mich.
Wir standen nebeneinander, blickten ins Feuer und schauten zu, wie mein Haar verschwand.

„Du hast das großartig gemacht“, flüsterte sie.

„Ich bin stolz auf dich.“

Und genau da – schloss sich das Kapitel. Sanft. Ohne Knall. Und endgültig.

VI. Der Sprung

Es ging nie nur um den Haarschnitt.
Es ging darum, meinen inneren Grenzen zu begegnen –
der Angst, dem tiefen Wunsch, mich schön zu fühlen,
und dem alten, falschen Glauben, dass ich das nicht darf.

Das war einer dieser besonderen Gelegenheiten,
in denen ich über mich hinauswachsen durfte.
Nicht nur, weil ich mich der Angst stellte –
sondern auch weil ich es wagte, mich schön zu fühlen.

In der Traumaarbeit lernen wir, wie man mit der Trauer sitzt.
Mit unserer Angst. Und wie Verluste richtig wahrnimmt.

Aber wer lehrt uns, mit der Freude zu sitzen?
Mit Selbstvertrauen, Liebe und Leichtigkeit?

Die eigentliche Herausforderung ist nicht nur, das Schwere anzunehmen – sondern das Schöne zu zulassen.

Mit dem zu sitzen, was du heimlich über dich hoffst, das war sei:
Dass du schön bist.
Wertvoll.
Genug.

Das ist die eigentliche befreiende und heilende Arbeit:
Diese Gefühle und Sichtweisen dürfen in uns Heimat finden.

 
Schwarz-weißes Porträt von Lisa Krause. Ihr Blick ist ruhig und direkt, die Haltung offen. Eine leise Stärke, Klarheit und Wärme strahlt aus ihrem Gesicht – passend zu ihrer Arbeit und ihrem Schreibstil.

Ich schreibe über alltägliche Sprünge aus der Komfortzone – mit Freude, Trauer und das stille Dazwischen.
Denn ja, Wachstum lebt in den kleinen Dingen.
Manchmal sogar in etwas so Einfachem wie einem Haarschnitt.

Wenn diese Geschichte etwas in dir berührt hat, freue ich mich, von dir zu hören.
Melde dich gern – oder teile sie mit jemandem, der vielleicht einen sanften Schubs für den eigenen Sprung braucht.

Immer mit Mut,
Lisa

Lisa Krause

Lisa Krause is a German clinical psychologist (M.Sc) and naturopathic psychotherapist, currently living in Oaxaca, Mexico. Her work is deeply informed by lived experience: a rare genetic diagnosis and a history of complex trauma opened the door to her own healing—through mindfulness, somatic therapy, and the intentional use of psychedelics in therapeutic settings.

Today, she supports others on their path with presence, professionalism, and a grounded trust in the body’s innate intelligence. Lisa holds space for what’s real—grief, old patterns, and the natural unfolding of potential. She believes that difficult emotions are here to be felt and understood, while joy and curiosity show us the way forward. Her sessions go deep, yet are always infused with clarity, compassion, and a quiet sense of humor.

It is her commitment to her own growth that shapes the depth of her work—and, as her clients often say, makes her an extraordinary therapist. She shares her personal reflections in Notes to Grow—a blog where she writes candidly about healing, nature, and the ongoing practice of showing up for oneself.

https://www.lisakrause.com
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Über Frieden, Verlust – und das stille Ankommen im Jetzt