Stirb, um zu Leben
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Ein Brief an mich Selbst.
Dieser Brief an mich Selbst, genannt „Stirb um zu leben“, handelt von der Erkenntnis der unabdingbaren Notwendigkeit zu sterben, sich immer wieder dem Sterbeprozess vollkommen hinzugeben, um zu wachsen. Wir können dem Sterben und dem wieder geboren werden nicht entkommen, es ist ein natürlicher Prozess.
Es gibt keinen Weg daran vorbei – und doch, obwohl ich das weiß, fällt es mir unglaublich schwer, mich immer wieder aufs Neue hinzugeben. Der in mir lebende Widerstand bis zum Schluss ist so stark, so kraftvoll, so vertraut. Ich halte mich an dem Alten, dem was ich kenne, fest und will es einfach nicht loslassen.
Irgendwann ist der Druck so stark, dass die Hingabe, das „Aufgeben“, das Letzte ist, was noch möglich ist. Die Ironie des Ganzen ist, dass das Aufgeben eben genau das ist, was mich letztlich beschenkt. Es beschenkt mich mit neuem Wissen, mir wird jedes Mal klar, dass etwas in mir gehen muss, damit etwas Neues entstehen kann. Es ist unbequem und äußerst beängstigend – doch wäre die Angst nicht, wie könnte ich wissen, wie göttlich das Gefühl des Urvertrauens ist.
Es folgt ein Gedankenprozess, den ich niederschrieb, als ich in den Bergen von Oaxaca, Mexiko, in meinem Garten saß und den Vögeln lauschte:
Mein Körper ist erschöpft. Mein Gesicht und Kiefer sind noch immer verkrampft. Das geht so seit Wochen. Abends gehe ich mit Kopfschmerzen ins Bett, meistens weigere ich mich, ein Schmerzmittel zu nehmen.
Doch manchmal möchte ich eine Pause vom Schmerz, und obwohl ich weiß, dass es nur eine temporäre und kurzfristige Lösung ist, nehme ich die Möglichkeit manchmal wahr, meinen Schmerz für eine Nacht zu lindern.
Die Ursache ist damit nicht gelöst, das weiß ich. Aber ich bekomme eine Pause. Eine Pause vom Hinhören und Verstehen, was der Schmerz mir sagen will. Denn wenn ich bedingungslos lausche, ohne den Schmerz verändern zu wollen, wenn ich neugierig bin zu hören, was er zu sagen hat. Wenn ich liebevoll zu ihm bin, ihn nicht verurteile oder gar ablehne, wenn ich ihm den Raum gebe, einfach da zu sein, solange er will, dann passiert etwas Besonderes.
Nach tagelangen Schmerzen im Kopf und Nacken bin ich heute Morgen etwas leichter aufgewacht, ein dumpfes Brummen im Kopf ist noch da, aber ich kann mich wieder spüren.
Etwas in mir, was ich „mich“ nenne. Dieses „mich“ verschafft mir Zugang dazu, meine Bedürfnisse zu erkennen, mir etwas Gutes zu tun, nicht im Leid als Opfer verloren zu gehen, mit mir im Moment präsent zu sein, zu akzeptieren, was ist, und demnach zu handeln.
Das sind kleine Dinge, wie zum Beispiel meinen Partner um Hilfe zu bitten, anstatt wie geplant mich an die Arbeit zu setzen, den Tag anders zu starten, im Garten herumzusitzen und zu schauen, was passiert, ein bisschen Blumen zu gießen, den Vögeln zu lauschen, vielleicht etwas aufzuschreiben.
Vielleicht aber auch einfach nur dasitzen, solange bis eben ein anderer Impuls von diesem „mich“ kommt. Dieser könnte dann sein, zu duschen, zu frühstücken – ja, vielleicht sogar nicht automatisch das Frühstück zu machen, was ich für gesund halte oder sonst immer esse.
Dieses „mich“ verleiht mir Zugang zu einer spontanen Veränderung des normalen alltäglichen Ablaufs, der sich erfrischend gut anfühlt.
Ich bemerke, dass mein Körper bei jedem Hinhören dieser Intelligenz in mir sich entspannt. Wie ein kleines, seufzendes „ahhhh“ spüre ich von all meinen zuvor angespannten Nerven und Muskelzellen. Ich bin im Kontakt mit mir und meinem Körper. Die Kommunikation funktioniert.
Bisher habe ich noch nicht herausgefunden, wie ich ständig in diesem Kontakt mit mir sein kann. Aber heute bin ich es, und eins kann ich tun: bewusst wahrnehmen, wie sich heute die Kommunikation anfühlt. Dankbar sein für diesen Kontakt. Und so wie ich dies schreibe, läuft mir eine Träne über mein Gesicht.
Ich will die Zeit des „nicht im Kontakt Seins“ nicht bewerten, sondern etwas daraus lernen. Während ich heute im Garten saß und mich über den Kontakt zu mir freute, begann ich, eine besondere Energie in mir wahrzunehmen. Ich spürte eine Art “Auf-Regung” in mir. Ja, eine Regung, ein Ausbruch, ein Entspringen. Und weil mir die Natur meine liebste Lehrerin ist, schenkte sie mir heute eine wunderschöne Analogie zu diesem Gefühl.
Der Kreislauf des Wassers – Eine Analogie
Das erregende und bewegende Gefühl in mir erinnerte mich an den Kreislauf des Wassers. Das Regenwasser, das in die Erde versickert und durch das immer tiefe Absinken durch die Gesteinsschichten gereinigt und gefiltert wird. Dabei wird es mit Mineralien und Spurenelementen angereichert, bis es letztlich an eine Gesteinsschicht gerät, die wasserundurchlässig ist. Dort wird das Wasser gestoppt, und es staut sich an. Solange, bis so viel Druck entsteht, dass es sich den Weg hinaus durch die Erdoberfläche sucht und als Quelle entspringt. Sobald das Wasser entspringt, fließt es weiter, immer weiter. Manchmal bilden sich Bäche, die zu Flüssen werden und in einem schönen See oder im Meer münden. Das Wasser fließt zurück zum Ursprung. Und alles beginnt von Neuem.
Die Sonne transformiert das Wasser zu Wasserdampf, also in einen komplett anderen Zustand. Es steigt in die Atmosphäre, bis es sich soweit abkühlt, dass es wieder hinunter regnet und aufs Neue sich seinen Weg durch die Gesteinsschichten sucht.
Transformation und Akzeptanz
Dieses Phänomen der Natur inspiriert mich, denn heute fühle ich mich so, als wäre ich nach langer Zeit der Durchsickerung durch die Gesteinsschichten und der folgenden Anstauung meiner Selbst, zurückgezogen tief im Inneren der letzten undurchlässigen Gesteinsschicht, einsam und sehnsüchtig nach dem Licht und der Oberfläche, heute endlich „entsprungen“.
Entsprungen mit neuem Wissen, durch das Erleben dieses Prozesses. In der Analogie übertragen fließe ich nun, angereichert mit Spurenelementen und Mineralien, an der Erdoberfläche entlang, bis ich an meinen Ursprungsort zurückgelange. Das, was ich angereichert habe, bin ich bereit, mit anderen zu teilen. Bis es wieder Zeit wird, den Transformationsprozess zu beginnen.
Es wird heiß, die Sonne erwärmt mich – oder kann ich sagen, ein Lebensumstand fordert mich? Ohne es zu kontrollieren, beginnt der Prozess der Transformation. Ich kann versuchen, ihn aufzuhalten, wie die Raupe ihre Imagozellen zuerst auffrisst, bevor sie sich dem Prozess der Verpuppung hingibt, ja vielleicht sogar aufgibt. Sie akzeptiert zu sterben. Und sie stirbt auch. Nie wieder wird sie sich wie eine Raupe über ein Blatt fortbewegen. Doch dann, wenn der Transformationsprozess abgeschlossen ist, wird sie fliegen. Sie wird eine neue Welt erleben, sich selbst und ihre neuen Fähigkeiten ausprobieren.
Vertrauen als Schlüssel zum Wachstum
Und so wie ich das alles weiß und immer wieder erfahre, so ist das Angestautsein in den Gesteinsschichten oder das Heranreifen im Kokon immer wieder neu, das gleiche alte Leid. Es ist unbequem, beängstigend und nicht vorhersehbar, was passiert.
In der Vergangenheit versuchte ich, mich vorzubereiten auf unbequem, beängstigend und nicht vorhersehbar, doch heute muss ich feststellen, dass es nur eines ist, was ich im Laufe dieses natürlichen Prozesses des Wachsens lernen werde:
Vertrauen.